Sechs Stimmen einer Sinnkrise
Regisseurin Katka Schroth im Gespräch mit Dramaturgin Bettina Jantzen
Wie hast du dich in deiner Inszenierung dieser Heimkehrer-Geschichte, die kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs spielt, genähert?
Dieses Stück war in der Nachkriegszeit für die Menschen wie Balsam auf ihre Seele. Aber für mich sind die Situation nach dem Krieg wie auch die existentiellen Erfahrungen oder Erinnerungen an das sinnlose Kämpfen und Sterben weit weg, nichts ist weiter weg als das. Also schaue ich, was interessiert mich. Was ich heute gut verstehe, ist die tiefe Sinnkrise Beckmanns. Er weiß nicht mehr, wie es weiter gehen soll, er hat sich wie eingemauert in seine Geschichte, sich den Weg nach innen und außen versperrt. Beckmann versucht herauszukommen aus der Sinnkrise. Dabei trifft er auf eine Welt, in der es keinen Plan gibt. Für mich wird sie durch den Oberst, die Gottesfigur aber auch den Kabarettdirektor repräsentiert, von denen er fordert, dass sie die Verantwortung übernehmen sollen. Da entsteht ein interessanter Widerspruch.
Eine entscheidende Frage bei meiner Annäherung an den Text aber war: Stelle ich davon ein Abbild her oder suche ich nach einem Sinnbild. Mich interessierte das Sinnbild.
Auf welchen Wegen entwickelst du dieses Sinnbild?
Zunächst nehme ich den Text auseinander. Ich zerschneide ihn und setze ihn wieder zusammen. Dabei entsteht etwas Neues, das ich nicht kenne und über dessen Ausgang ich während der Arbeit noch nichts weiß. Ich schaffe eine Versuchsanordnung, die sich beispielsweise auch dem Kitsch, der dem Text innewohnt, komplett verweigert. Mein Umgang mit dem Text und der ästhetische Ansatz, der vom Bühnenbildner geprägt wird, all das sind Instrumente, um zur eigenen Verzweiflung, Verwirrung und dem eigenen Wahnsinn vorzudringen.
In deiner Versuchsanordnung spielen nun sechs Männer …
Es gibt keine durchgehende Beckmann-Figur mehr. Aber es entstehen durch das neue Zusammensetzen sechs Stimmen. Dabei geht es mir um Vergrößerung, um die Gleichzeitigkeit der Stimmen, um Vielstimmigkeit. Einer zum Beispiel rappelt sich auf, während der andere abstürzt, einer ist auf dem Erkenntnisweg ... Das sind ganz unterschiedliche Positionen und Perspektiven, die jetzt gleichzeitig existieren können. Ich sehe auf der Bühne etwas anderes, als ich höre. Dadurch entstehen Widersprüche und auch Unerklärtes. Genau das finde ich spannend – ich möchte Räume zum Denken eröffnen. Was dabei herauskommt, ist sozusagen freigegeben.
Du kreierst parallel zu Wolfgang Borcherts Stücktext diese andere Ebene mit sechs Menschen von heute …
Ja, das sind wir in unserem Zustand heute, es ist unsere Sinnkrise. Beckmann ist jemand, der an nichts mehr glaubt, der überfordert ist, der sagt, ich kann nicht mehr, am besten bringe ich mich um oder noch besser: Ich gebe die Verantwortung zurück. Das ist ein Hauptthema und könnte eine Lösung sein: die Verantwortung zurückgeben. Also die Verantwortung zurückgeben, die wir alle nicht übernehmen wollen für die Gesellschaft, für unser Leben. Das sind spannende Korrespondenzen.
Was interessiert dich außerdem an dem Stücktext, der weiterhin als Basis präsent ist?
Er erzählt die Geschichte einer Depression. Unter diesem Gesichtspunkt untersuche ich ihn. Ich höre die ganze Zeit die konkrete Geschichte – und dennoch gibt es eine Verschiebung. Aber das Stück bietet auch theatralisch viel Spannendes, denn es hat keinen Wirklichkeitscharakter. Es gibt darin so viele verrückte Situationen: Da tritt der Liebe Gott auf, an den keiner mehr glaubt, Beckmann trifft auf den Anderen, der er selbst ist, der Tod erscheint, sagt aber vorher, er ist Beerdigungsunternehmer … Personen verwandeln sich ständig. Es hat etwas von einem Fiebertraum.
Wir befinden uns alle gemeinsam in einem Kunstraum, einem Assoziationsraum. Auch ein Mittel bei der Entwicklung des Sinnbilds?
Ja natürlich, denn er ermöglicht das Sinnbild, weil ich genau nicht sehe, was mir der Text sagt. Auch wenn wir einiges zitieren, ist es doch ein ständiges Assoziieren. Der Raum ist in sich völlig geschlossen, hier ist Beckmann eingesperrt. Er ist ein inneres Gefängnis, aus dem es keinen Weg nach draußen gibt. Wenn man eine solche experimentelle Situation schafft, erfindet man eigene Regeln für das Theater. Das ist das Großartige am deutschen Theater, dass diese unglaubliche Vielfalt möglich ist – noch.
Wie sollte Theaterarbeit sein, die du spannend findest?
Für mich sind Text und Theater immer Material für die Auseinandersetzung mit der Welt, in der man lebt. Und zwar ohne Augenauswischerei. Mich interessiert am Theater das Zusammenspiel der verschiedenen Leute: Da ist der Bühnenbildner Christoph Ernst, der mir einen Vorschlag macht, der mich herausfordert und zu dem ich mich verhalten muss. Dann wir beide, die wir mit der Textfassung ein Material erarbeitet haben, das mich vor die Aufgabe stellt, dass wir das spielen müssen. Dann die Schauspieler, ohne die Theater gar nicht geht und die daraus ihre eigenen Phantasien entwickeln und mit denen ich relativ ergebnisoffen arbeite.
Was wünschst du dir von den Zuschauern?
Solange es noch Irritationen gibt, ist noch Hoffnung.